Wir gedenken der 80.000 Corona-Toten in Deutschland

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt auf der von ihm angeregten zentralen Gedenkfeier für die Corona-Opfer eine beeindruckende Rede, die wir in Auszügen an dieser Stelle wiedergeben möchten.

„Vor mehr als einem Jahr ist die Pandemie über uns hereingebrochen. Sie hat tiefe Wunden geschlagen und auf schreckliche Weise Lücken gerissen – in unserem Land, in Europa, in der ganzen Welt. Und wir wissen: Sie ist immer noch nicht vorbei. Wir sind ermüdet von der Last der Pandemie, und wundgerieben im Streit um den richtigen Weg. Auch deshalb brauchen wir einen Moment des Innehaltens, einen Moment jenseits der Tagespolitik, einen Moment, der uns gemeinsam einen Blick auf die menschliche Tragödie der Pandemie erlaubt.

Wir wollen und wir müssen der Menschen gedenken, die seit dem Beginn der Pandemie gestorben sind. Wir wollen heute als Gesellschaft derer gedenken, die in dieser dunklen Zeit einen einsamen und oft qualvollen Tod gestorben sind.

80.000 Menschen sind dem Virus in unserem Land bisher zum Opfer gefallen. Mehr als drei Millionen sind es weltweit. Tag für Tag sterben weitere an den Folgen der Infektion. Auch in dieser Stunde ringen Menschen auf den Intensivstationen mit dem Tod.

Seit dem Beginn der Katastrophe blicken wir täglich wie gebannt auf Infektionsraten und Todeszahlen, verfolgen Kurvenverläufe, vergleichen und bewerten. Das ist verständlich. Aber mein Eindruck ist, dass wir uns als Gesellschaft nicht oft genug bewusst machen, dass hinter all den Zahlen Schicksale, Menschen stehen. Ihr Leiden und ihr Sterben sind in der Öffentlichkeit oft unsichtbar geblieben. Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen.

Also schauen wir heute nicht auf Zahlen und Statistiken, sondern auf die Menschen, die von uns gegangen sind. Frauen und Männer aus allen Regionen unseres Landes. Hochbetagte, Ältere und Jüngere. Wir erinnern an ihre Namen, Gesichter und Geschichten. So unterschiedlich sie waren und gelebt haben: Sie alle fehlen – sie fehlen in ihren Familien und Freundeskreisen, in der Nachbarschaft, im Kreis der Kollegen, in unserer Gesellschaft. (…)

Wir gedenken heute auch der Menschen, die seit dem Beginn dieser globalen Katastrophe in Europa und auf der ganzen Welt gestorben sind. Die Trauer verbindet uns über Grenzen hinweg. Und die Erfahrung des geteilten Leids bestärkt uns, auch gemeinsam zu handeln, in Europa und weltweit. (…)

Wir denken heute auch an die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger, die in dieser Zeit Tag und Nacht um jedes Leben kämpfen, oft bis zur völligen Erschöpfung und nicht selten darüber hinaus. Wir denken an all jene, die in Krankenhäusern, Pflegeheimen, in der Seelsorge und in Hospizen bis zuletzt für Sterbende da sind, die versucht haben, ihnen trotz allem einen Abschied in Würde zu ermöglichen. Wir sind dankbar für ihre Fürsorge, für ihre Nächstenliebe. Sie alle riskieren ihre Gesundheit, um für andere da zu sein. Nicht wenige haben sich, während sie ihren Beruf ausübten, selbst mit dem Virus angesteckt, einige sind gestorben. Auch ihnen wollen wir heute Ehre erweisen. Wir verneigen uns mit Respekt vor ihrem selbstlosen Engagement. (…)

Viele von Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, haben in den vergangenen Monaten um Angehörige gebangt, gezittert und geweint. Manche konnten ihre Nächsten geheilt aus den Kliniken abholen; aber viele haben vor verschlossenen Krankenhaustüren gestanden und gefleht, noch einmal zu ihrer Frau oder ihrem Mann gelassen zu werden, zu ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Tochter, ihrem Sohn. Es gibt keine Worte für Ihren Schmerz. Aber wir hören Ihre Klage. Wir verstehen Ihre Bitterkeit. (…)

Rituale des Trauerns geben Halt, spenden Trost und stiften Sinn. In der Zeit der Pandemie konnten diese Rituale oft nicht wie gewohnt oder aber gar nicht stattfinden. Viele Trauernde haben Bestattungen, die nur im allerkleinsten Kreis stattfinden konnten, als trostlos empfunden. Sie haben die gemeinschaftliche Trauer vermisst, die Verabschiedung am offenen Grab. Sie haben andere Menschen vermisst, jemanden, der sie in den Arm nimmt und mit ihnen weint.(…)

Viele Trauernde treibt die Befürchtung um, dass ohne dieses gemeinsame Erinnern ihre Toten sang- und klanglos verschwinden, dass sie nicht weiterleben im Gedächtnis der Familien, des Freundeskreises oder der Nachbarschaft. Sie sehnen sich danach, die Verstorbenen mit ihrer ganzen Lebensgeschichte in der Gemeinschaft aufgehoben zu wissen. Möge der heutige Tag allen Trauernden Anlass geben, über den Verlust sprechen zu können.(…)

Auch an vielen anderen Orten unseres Landes gedenken Menschen heute der Verstorbenen und nehmen Anteil am Schicksal der Hinterbliebenen. Sie zünden Kerzen an, legen Blumen nieder, pflanzen Bäume, lassen an Gedenkstellen ein Gedicht oder ein Gebet zurück. Gerade jetzt, in der Zeit der Pandemie, brauchen wir solche Orte, an denen wir mit kleinen Gesten zeigen können: Wir sind füreinander da, wir sind uns nah, auch wenn wir immer noch Abstand halten müssen. (…)

Wenn wir heute einen Moment innehalten, dann wird uns bewusst, dass das Virus unsere Gesellschaft tiefer erschüttert und verwundet hat, als wir uns das im Alltag eingestehen. Uns wird bewusst, wie schwer uns das alle trifft. Wir alle spüren Sorge, spüren Ungewissheit. Wir alle leiden unter den Beschränkungen, die wir uns auferlegen mussten und weiter auferlegen müssen, um die Pandemie einzudämmen.

Aber wir wissen auch längst: Das Virus gefährdet nicht alle gleich, und die Beschränkungen setzen nicht allen gleich schwer zu. Deshalb denken wir heute besonders an diejenigen, die diese Krise besonders hart getroffen hat. An die Menschen, die an den Spätfolgen einer Infektion leiden. An jene, die seelisch krank geworden sind vor Einsamkeit und Enge. An Menschen, die Gewalt erlitten haben.

Wir denken an jene, die in wirtschaftliche Not geraten sind und um ihre Existenz bangen. An die Kinder, die auf Schule und Freunde verzichten müssen. An junge Menschen, die ausgerechnet in ihrem Start ins Leben ausgebremst sind.

Ich übersehe nicht, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger: Neben der Trauer gibt es bei manchen auch Verbitterung und Wut. Viele, die mir geschrieben haben, fragen sich, ob bestimmte Einschränkungen, die beschlossen wurden, um die Pandemie einzudämmen, zu viel Freiheit genommen haben. Sie fragen sich, ob bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, die Menschlichkeit manchmal auf der Strecke geblieben ist. Ich verstehe die Fragen, ich verstehe die Verbitterung.

Und ja, es stimmt: Wir haben Menschen Einsamkeit zugemutet, um andere vor Krankheit oder Tod zu schützen. Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten. Das ist ein Konflikt, aus dem es keinen widerspruchsfreien Ausweg gibt. Ich weiß, dass Einschränkungen, die in der Ausnahmesituation der Pandemie notwendig sind, unbeabsichtigt auch Leid und Not verursacht haben. Das ist die bittere Wahrheit. (…)

Meine Bitte ist heute: Sprechen wir über Schmerz und Leid und Wut. Aber verlieren wir uns nicht in Schuldzuweisungen, im Blick zurück, sondern sammeln wir noch einmal die Kraft für den Weg nach vorn, den Weg heraus aus der Pandemie, den wir gehen wollen und gehen werden, wenn wir ihn gemeinsam gehen.(…)

Wir sehen die Wunden, die die Pandemie geschlagen hat. Wir gedenken der Verstorbenen. Und wir fühlen mit den Lebenden, die um sie trauern.

Bleiben wir beieinander, und geben wir acht aufeinander.

(https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/04/210418-Corona-Gedenken.html#)